Hintergrund der Allgemeinverfügung: Schutz einer bedrohten Vogelart
Die Allgemeinverfügung des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom Mai 2022 untersagte Katzenhaltern im südlichen Walldorf während der Brutzeit vom 1. April bis 31. August den Freigang ihrer Tiere. Ziel war der Schutz der Haubenlerche – einer streng geschützten, in Baden-Württemberg vom Aussterben bedrohten Vogelart, deren Bestand sich in der Region auf nur etwa 60 Reviere reduziert hat. Aufgrund der Bodenbrüter-Eigenschaft und der Nähe zum Siedlungsrand wurden insbesondere freilaufende Hauskatzen als Gefahr für flugunfähige Jungvögel eingestuft.
Inhalt und Reichweite der Anordnung
Die Verfügung verpflichtete Katzenhalter, ihre Tiere während der Brutzeit im Haus zu halten oder andernorts unterzubringen. Ausnahmen sollten nur mit aufwändigem GPS-Tracking zugelassen werden, das beweist, dass die Katze den Gefahrenbereich meidet. Bei Verstößen wurde ein Zwangsgeld von 500 Euro angedroht.
Öffentliche Kritik und politische Reaktionen
Die Anordnung löste bundesweit Aufsehen aus. Neben einer starken medialen Resonanz äußerten sich auch politische Akteure kritisch. Sowohl die Landestierschutzbeauftragte als auch das zuständige Ministerium bewerteten die Regelung als schwer umsetzbar und unverhältnismäßig.
Formelle Mängel: Fehlerhafte Bekanntmachung und mangelnde Bestimmtheit
Ein zentrales Problem liegt in der formellen Umsetzung: Die Allgemeinverfügung wurde in unterschiedlichen Fassungen im Internet veröffentlicht, ohne klare datumsbezogene Kennzeichnung. Diese widersprüchliche Veröffentlichung erschwert den Betroffenen die korrekte Rechtsmittelfrist zu erkennen und verletzt grundlegende Bekanntmachungsvorschriften. Auch der Geltungsbereich der Verfügung war unzureichend beschrieben – Kartenausschnitte enthielten keine Straßennamen, und textliche Beschreibungen blieben vage.
Rechtliche Bedenken hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeit
Materiellrechtlich stützt sich die Verfügung auf das Verbot, streng geschützte Tierarten erheblich zu gefährden. Allerdings mangelt es an nachvollziehbaren und aktuellen Daten, die eine signifikante Erhöhung des Tötungsrisikos durch Hauskatzen belegen würden. Die Behörden stützen sich auf veraltete Studien, deren Übertragbarkeit auf das städtische Umfeld von Walldorf zweifelhaft ist. Es fehlen konkrete Monitoringdaten zum tatsächlichen Verhalten von Katzen vor Ort sowie zur genauen Anzahl aktiver Brutpaare im Geltungsbereich der Verfügung.
Verhältnismäßigkeit in Frage gestellt: Geeignetheit, Erforderlichkeit, Zumutbarkeit
Selbst bei unterstellter Gefährdung ist die Maßnahme nicht alternativlos. In anderen Gemeinden wurden erfolgreich Schutzmaßnahmen für Haubenlerchen umgesetzt, ohne Katzenhalter einzuschränken. Dazu zählen etwa Habitatgestaltung, Einzäunung geeigneter Flächen oder gezielte Brutplatzlenkung. Diese milderen Mittel wurden in Walldorf nicht ausgeschöpft. Zudem besteht keine nachgewiesene Kausalität zwischen Katzenfreigang und Rückgang der Population. Ein Habitatverlust durch Bauprojekte und Pestizideinsatz dürfte schwerer wiegen.
Betroffenheit der Katzenhalter: Tierschutzrecht und Grundrechte
Die Auswirkungen auf Halter und Tiere sind gravierend. Viele Katzen sind nicht an reine Wohnungshaltung gewöhnt, was zu Verhaltensstörungen, gesundheitlichen Problemen und möglicher Tierquälerei führen kann. Diese Haltung widerspricht dem Tierschutzgesetz, wonach artgerechte Bewegung zu gewährleisten ist. Zudem sind wirtschaftliche Werte und Grundrechte der Halter berührt: Allgemeine Handlungsfreiheit, Eigentumsrecht und auch Gewissensfreiheit (bei moralisch motivierter Tierhaltung) sind betroffen.
Praxistauglichkeit und Vollzugsprobleme
Die Einhaltung der Maßnahme ist kaum kontrollierbar. Katzen lassen sich nicht verlässlich einsperren, und das vorgesehene GPS-Tracking ist technisch, organisatorisch und finanziell nicht flächendeckend realisierbar. Die verfügbaren Ausnahmen wirken eher wie theoretische Alibis als wie praktikable Auswege. In der Praxis entsteht so ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit – sowohl für Halter als auch für die Behörde.
Fazit: Rechtlich angreifbar, praktisch unverhältnismäßig
Die Ausgangssperre für Katzen in Walldorf veranschaulicht exemplarisch, wie konfliktreich das Spannungsfeld zwischen Artenschutz und Tierschutz sein kann. Zwar ist der Schutz bedrohter Arten ein legitimes Ziel – doch rechtlich wie praktisch muss dieses mit Augenmaß verfolgt werden. In diesem Fall stehen einer unzureichend begründeten Maßnahme erhebliche Eingriffe in Tierwohl und Grundrechte gegenüber. Die Ausarbeitung der Verfügung krankt an fehlender empirischer Basis, mangelnder Kommunikation und fehlender Berücksichtigung alternativer Schutzkonzepte. Der Fall zeigt: Gerade im Artenschutz ist juristische Sorgfalt, fachliche Expertise und ein realistischer Blick auf die praktische Umsetzbarkeit unerlässlich.
Das Kurzgutachten der Deutschen Juristischen Gesellschaft für Tierschutz finden Sie hier.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.