Ein Pferd mit drei Beinen (Dressur-Studien 02/2016)

„Einen Monat lang haben Tierärzte um das Leben des schwer verletzten Polizeipferdes Shaktiman gekämpft – letzte Woche ging dieser Kampf verloren. Das Pferd, das so tapfer alle Schmerzen ertrug und dessen Lebenswille ein ganzes Volk faszinierte, wachte nicht mehr aus der Narkose auf.“

Diese Meldung stammt aus Indien, aber sie hätte genauso auch aus Deutschland oder einem anderen Land kommen können. Denn auf der ganzen Welt gibt es immer wieder Fälle, in denen Menschen verzweifelt versuchen, ein verletztes Tier zu retten – um jeden Preis und mit jedem Aufwand. Und in sehr vielen Fällen ohne jede Rücksicht auf das Tier. Denn während Menschen sich gern einreden, dass Tiere „Schmerz tapfer ertragen“ und ihr angeblicher Lebenswille ganze Völker „fasziniert“, bleibt der Nutzen für den Patienten oft im Dunkeln. Im Windschatten der Tierliebe ist die Frage nach dem Sinn politisch unkorrekt – dabei gibt es nicht nur unter Juristen dazu eine Menge zu sagen.

Das Pferd Shaktiman wurde bei einem Einsatz verletzt. Weil der Täter möglicherweise ein Politiker war, wurde der Fall zum Politikum. Das Pferd wurde mehrfach operiert, aber das linke Hinterbein war nicht zu retten. Weil eine „Tierschutzorganisation“ eine Prothese ausprobieren wollte, wurde ein Teil des Beines amputiert. Bei einer der Folgeoperationen starb das Pferd. Endlich, möchte man sagen. Denn während die Menschen „fasziniert“ waren, hat das Tier gelitten.

Aber wo liegt diese Grenze, hinter der aus Tierliebe eine strafbare Handlung wird? In Deutschland definiert sich dieser Punkt aus dem Tierschutzgesetz: Einem Pferd länger anhaltende oder sich wiederholende Schmerzen oder Leiden zuzufügen, ist strafbar. Das Gesetz unterscheidet dabei nicht prinzipiell zwischen Tierärzten und anderen Personen – aber es sieht die Möglichkeit eines „vernünftigen Grundes“, aus dem Schmerz und Leiden zugefügt oder ein Tier getötet wird. Einem Tier Leiden zuzufügen, um es zu heilen, ist also erlaubt, ähnlich wie auch beim Menschen viele Behandlungen mit Schmerzen einhergehen. Anders als beim Menschen kann der tierische Patient aber nicht in die Behandlung einwilligen und damit rechtliche Unsicherheiten beseitigen.

Weil es an der Möglichkeit einer Einwilligung fehlt, muss bei Tieren eine rechtliche Norm die Grenze zwischen erlaubter Behandlung und verbotener Tierquälerei ziehen. Ein vernünftiger Grund wird bei einer Behandlung in der Regel dann gegeben sein, wenn Ausmaß und Dauer der Schmerzen zeitlich begrenzt sind und angesichts eines sicher zu erwartenden Ergebnisses verkraftbar erscheinen. Ist die Behandlung mit einem kurzen Schmerz verbunden und bietet Aussicht auf baldige schmerzfreie Zeit danach, stellt sich das Recht nicht dagegen. Wo aber keine Heilung erwartet werden kann, verbietet sich das Zufügen weiterer Leiden.

Zwischen diesen beiden Polen liegt eine Grauzone von erheblicher Ausdehnung, in die Juristen in vielen Fällen nur nachträglich hineinleuchten können. War es angemessen, diesen Behandlungsversuch noch zu unternehmen? Hätten dem Tier diese drei Tage lieber erspart werden sollen? Wann ist es Zeit, ein langes Leben am Ende noch abzukürzen, um Schmerzen des Alters zu beenden? Jeder, den Tiere über viele Jahre begleitet haben, kennt diese Fragen und hat (hoffentlich) gelernt, dass es in den meisten Fällen keine einfachen Antworten gibt. Was den Zeitpunkt der Entscheidung betrifft, sind eher die Mediziner als die Juristen gefragt.

Mehr Klarheit herrscht in den Bereichen, in denen auch Nicht-Mediziner sofort erkennen können, wie die Sache liegt: Dass Pferde mit drei Beinen keine Aussicht auf ein schmerz- und stressfreies Leben mehr haben können, nimmt einer Fortsetzung der Behandlung jegliche rechtliche Rechtfertigung. Schon die Amputation des Beines wäre im Fall Shaktiman nach deutschem Recht möglicherweise als Straftat gewertet worden, weil die Operation auf kein vernünftiges Ergebnis mehr zielte.

Menschen neigen dazu, anderen Lebewesen ihre Maßstäbe aufzuzwingen, sogar dann, wenn sie damit gegen die Maßstäbe verstoßen, die sie sich selbst in Form von Gesetzen gegeben haben. Das funktioniert in der rechtlichen Praxis häufig deshalb, weil die gesetzlichen Spielregeln einen Interpretationsspielraum eingebaut haben, wie den „vernünftigen Grund“ im Tierschutzgesetz. Das schützt den Menschen aber nicht davor, sich an seinem Tier schuldig zu machen, wenn er ihm aus falsch verstandener Tierliebe Schmerzen nicht erspart, die zu nichts führen.
Shaktiman hat es hinter sich. Lassen Sie es für Ihr Pferd niemals so weit kommen.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 02/2016 der Dressur-Studien, die Sie hier erwerben können.

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