: : Müssen invasive Wildtiere zwingend getötet werden?

Die Vorstellung, jedes Exemplar einer invasiven Art sogleich zu beseitigen, sobald es erreichbar ist, klingt zunächst nach konsequentem Naturschutz. Aus der Sicht eines im Artenschutz tätigen Praktikers zeigt sich jedoch ein komplexes Zusammenspiel aus Biodiversitäts­schutz, Tierschutz und behördlicher Umsetzbarkeit. In der täglichen Arbeit entscheiden nicht Ideologie oder Jagdtradition, sondern Maßstäbe wie Verhältnismäßigkeit, Wirksamkeit und gesellschaftliche Akzeptanz.

Rechtlicher Rahmen zwischen Schutz und Eingriff

Europaweit gilt seit mehreren Jahren eine einheitliche Verordnung zum Umgang mit gebietsfremden Arten. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, nachteilige Auswirkungen auf heimische Ökosysteme zu minimieren, eröffnet aber gleichzeitig ein breites Instrumentarium: von Prävention über Habitatmanagement bis hin zu tödlichen und nicht-tödlichen Maßnahmen. Nationale Naturschutzvorschriften konkretisieren diesen Auftrag und betonen, dass jede Maßnahme verhältnismäßig sein muss. Damit ist klar: Eine Tötung ist nie Selbstzweck, sondern stets nur eine Option unter vielen.

Tierschutz als harte Leitplanke

Aus tierschutzrechtlicher Perspektive darf keinem Tier ohne vernünftigen Grund Leid zugefügt werden. „Vernünftig“ heißt in der Praxis: Der erwartete Nutzen – etwa der Schutz bedrohter heimischer Arten – muss das Leid deutlich überwiegen. Sobald es eine milderes, gleich wirksames Mittel gibt, scheidet die Tötung aus. Das ist mehr als eine juristische Fußnote; Behörden müssen diesen Abwägungsprozess vor jeder Freigabe nachweisbar dokumentieren. Für den Praktiker heißt das, jede Fallentscheidung belastbar zu begründen.

Ökologische Effektivität: Populationskontrolle ist mehr als Abschusszahlen

Viele großflächig etablierte Populationen – Waschbär, Nutria oder Nilgans – reagieren auf Jagddruck mit kompensatorischer Fortpflanzung. Hohe Abschusszahlen lesen sich in Statistiken eindrucksvoll, verändern die Populationsdynamik aber kaum. Wer dennoch auf unbegrenzte Bejagung setzt, investiert Ressourcen in eine Maßnahme ohne nachhaltigen Effekt. Das widerspricht dem Grundsatz der Wirksamkeit und kann sogar kontraproduktiv sein, weil Störungen zu zusätzlicher Ausbreitung führen.

Praxisbeispiele für nicht-letale Strategien

• Habitat­management: Gefährdete Brutplätze lassen sich durch stromsichere Elektrozäune oder bauliche Barrieren schützen. Das reduzieren Konflikte sofort und gezielt.
• Fütterungs­verbote in Parks: Entzieht man synanthropen Arten die künstliche Nahrungsquelle, sacken Bestände in urbanen Räumen messbar ab.
• Fertilitäts­kontrolle: In Norditalien zeigt eine Kombination aus Lebendfang, laparoskopischer Kastration und Wiederauswilderung von Nutrias, dass Bestände innerhalb weniger Jahre um über die Hälfte sinken, ohne dass neue Tiere nachwandern.
• Auffangstationen: Für verletzte oder verwaiste Tiere invasiver Arten existieren inzwischen Spezial­stationen, die Rehabilitation ermöglichen. Das verhindert unnötige Tötungen und erfüllt gleichzeitig den Bildungsauftrag gegenüber der Bevölkerung.

Kosten-Nutzen-Betrachtung aus Verwaltungssicht

Jagdliche Maßnahmen binden Personal, erfordern Genehmigungswege und verursachen Folgekosten für Fallenjagd, Entsorgung oder Kühlketten. Nicht-letale Alternativen brauchen anfangs häufig höhere Investitionen, zahlen sich jedoch langfristig durch sinkenden Pflege- und Kontrollaufwand aus. Eine solide Kostenanalyse zeigt oft, dass der Zaun am Amphibiengewässer günstiger ist als zehn Jahre Dauerjagd auf Waschbären im gesamten Einzugsgebiet.

Gesellschaftliche Akzeptanz entscheidet über Erfolg

Ob eine Maßnahme vor Ort trägt, hängt maßgeblich von der Unterstützung der Anwohner ab. Breite Bejagung in Naherholungsgebieten oder Stadtparks stößt regelmäßig auf Widerstand und führt zu gerichtlichen Auseinander­setzungen. Dagegen finden zielgenaue, transparente Projekte mit Lebendfang und nachfolgender Kastration hohe Zustimmung. Akzeptanz senkt die Kontrollkosten, weil weniger Sabotage droht und mehr ehrenamtliche Mithilfe entsteht.

Ultima Ratio: Wann Töten gerechtfertigt sein kann

Bleiben trotz sorgfältiger Prüfung nur noch letale Optionen – etwa bei akut gefährdeten Vogelkolonien auf Inseln oder bei massiven Damm­unterhöhlungen durch Bisam auf nicht sicherbarem Gelände – muss das Vorgehen strikten Standards genügen: modernste, tierschutz­konforme Fallen oder hochpräzise Schussabgabe, fachlich qualifiziertes Personal, eng begrenzter Zeitraum, lückenlose Dokumentation. Flächendeckende „Lizenz zum Töten“ widerspricht hingegen Recht, Ethik und guter Fachpraxis.

Vom reaktiven zum präventiven Management

Langfristig ist Prävention die kostengünstigste und zugleich tier­­schonendste Strategie. Strenge Importkontrollen, Quarantäneprotokolle im Handel, Monitoringprogramme und digitale Meldesysteme verhindern Neu­einträge oder erkennen sie so früh, dass komplette Entfernung noch realistisch ist. In der Praxis spart jeder vermiedene Neueintrag später millionenschwere Management­kosten.

Fazit: Keine Pauschalantwort, sondern Einzelfallabwägung

Invasive Wildtiere müssen also nicht grundsätzlich und immer getötet werden, sobald sie greifbar sind. Die Rechtslage verpflichtet Fachbehörden, jede Situation individuell zu bewerten und zunächst alle nicht-letalen, wirksamen Alternativen auszuschöpfen. Erst wenn diese scheitern oder nachweislich ungeeignet sind, kann eine streng regulierte Tötung ultima ratio sein. Für den Praktiker bedeutet das: Planung mit Augenmaß, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Transparenz gegenüber Öffentlichkeit und Politik. Nur so lassen sich Biodiversitäts­schutz und Tierschutz konsistent vereinbaren.

Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“

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