Unsichtbares Leid: Qualzucht trifft auch Kaninchen, Meerschweinchen und Mäuse
Während die Diskussion um Qualzucht oft auf Hunde und Katzen fokussiert ist, bleiben die gravierenden Probleme bei kleinen Heimtieren meist unbeachtet. Doch auch bei Kaninchen, Meerschweinchen, Ratten, Mäusen und Hamstern haben züchterisch überformte Merkmale längst Einzug gehalten. Besonders problematisch: Ihre Schmerzen und Leiden werden häufig unterschätzt oder gar nicht erkannt, da viele Kleintierarten still leiden und wenig auffälliges Verhalten zeigen.
Gefährliche Übertypisierung: Extremzucht bei Kaninchen
Kaninchen sind die wohl bekanntesten Kleintiere mit nachweisbaren Qualzuchtmerkmalen. Besonders betroffen sind Rassen mit extremem Körperbau wie Widderkaninchen oder Zwergkaninchen. Die überlangen Schlappohren der Widder, ein gezieltes Zuchtziel, verursachen eine gestörte Thermoregulation, erschweren das Hören und begünstigen chronische Entzündungen des Gehörgangs. Zusätzlich kommt es durch die Veränderung des Schädels häufig zu Gebissanomalien, die massive Schmerzen verursachen können und eine lebenslange tierärztliche Behandlung erfordern.
Bei Zwergkaninchen stehen disproportionale Zwergwüchsigkeit, persistierende Fontanellen am Schädel sowie Kiefer- und Zahnfehlstellungen im Vordergrund. Auch Fehlstellungen der Extremitäten, die mit Einschränkungen der Bewegung und Schmerzhaftigkeit einhergehen, sind häufige Folgen gezielter Selektion auf „Niedlichkeit“.
Meerschweinchen – Opfer der Haarmode
Bei Meerschweinchen sind vor allem Zuchtformen mit extremem Haarwuchs betroffen. Rassen wie Peruaner oder Rosettenmeerschweinchen neigen durch ihr langes oder wirbeliges Fell zu ständiger Verschmutzung, Hautentzündungen und eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Manche Zuchtformen haben durch die Kopplung der Haarstruktur mit Gendefekten zusätzlich eine erhöhte Anfälligkeit für Haut- und Zahnprobleme.
Zudem treten bei „Crested“ Meerschweinchen mit Stirnrosette – speziell bei den weißen Varianten – vermehrt Taubheit und Pigmentanomalien auf, ähnlich wie bei Weißtiger-Hunden. Diese Defekte gelten als tierschutzrechtlich hochrelevant.
Haarlosigkeit bei Ratten und Mäusen – mehr als ein modischer Trend
Nackt- und Rexvarianten bei Ratten und Mäusen werden oft als „besonders pflegeleicht“ oder „allergikerfreundlich“ vermarktet. In Wahrheit leiden diese Tiere jedoch häufig unter gestörter Thermoregulation, erhöhter Infektanfälligkeit und Hautproblemen. Die Haarlosigkeit ist meist auf genetische Defekte zurückzuführen, die auch Zahnanomalien oder Immunschwächen zur Folge haben.
Besonders kritisch ist die Zucht haarloser Tiere mit fehlenden Vibrissen (Tast- und Orientierungsorgane), die für eine normale Bewegung und Kommunikation unerlässlich sind. Ein artgemäßes Verhalten ist bei solchen Tieren kaum möglich – es liegt ein klarer tierschutzrelevanter Schaden vor.
Extremzucht auf Zwergform – Miniaturisierung mit fatalen Folgen
„Je kleiner, desto niedlicher“ – dieses vermeintlich harmlose Ideal hat in der Zucht kleiner Heimtiere dramatische Folgen. Durch gezielte Verzwergung entstehen Mini-Formen, etwa bei Hamstern, Kaninchen oder Mäusen, die unter massiven Skelettanomalien, neurologischen Ausfällen und Fehlbildungen der inneren Organe leiden. Persistierende Fontanellen und Hydrocephalus (Wasserkopf) wurden bei solchen Zuchtformen wiederholt dokumentiert.
Auch die perinatale Mortalität ist bei diesen Miniaturzuchten signifikant erhöht. Nicht selten sterben die Jungtiere bereits im Mutterleib oder kurz nach der Geburt.
Zucht auf Exotenstatus – Hybriden und Qualverpaarungen
Ein weiteres Problemfeld ist die Hybridisierung zwischen Wildformen und Haustieren, etwa bei Degus, Farbmäusen oder Streifenhörnchen. Diese Kreuzungen sind häufig genetisch instabil, zeigen gesteigerte Aggression, Stereotypien oder Verhaltensstörungen und sind in ihrer Haltung oft kaum tierschutzgerecht zu versorgen.
Die Motivation der Zucht liegt hier meist allein in der Schaffung „neuer“ oder besonders „spezieller“ Varianten für den Heimtiermarkt – zum Nachteil der Tiere.
Rechtliche Bewertung und Vollzugsdefizite
Rechtlich ist die Qualzucht auch bei Kleintieren durch das Tierschutzgesetz erfasst. Doch in der Praxis fehlt es an Kontrollen, Fachwissen und durchsetzbaren Standards. Kleintierzuchten unterliegen selten einer Genehmigungspflicht, Zuchtverbände fehlen oder agieren rein kommerziell.
Eine konsequente Anwendung des Qualzuchtverbots setzt die sachkundige Beurteilung individueller Tiere voraus – was beim Verkauf über Onlineplattformen und Kleinanzeigen kaum realisierbar ist.
Fazit: Qualzucht bei Kleintieren ist ein unterschätztes Problem
Die systematische Zucht auf extreme Körpermerkmale bei Kaninchen, Meerschweinchen, Mäusen und anderen Kleintieren führt ebenso zu Schmerzen, Leiden und Schäden wie bei Hunden oder Katzen. Nur durch konsequente Zuchtregulierung, öffentlichkeitswirksame Aufklärung und rechtlich verbindliche Tierschutzstandards kann dieses stille Leid beendet werden.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“