Was unter Qualzucht fällt – und warum sie so verbreitet ist
Als Qualzucht bezeichnet man Zuchtpraktiken, bei denen Tiere gezielt auf körperliche Merkmale oder Verhaltensweisen hin selektiert werden, die mit Schmerzen, Leiden, Schäden oder Verhaltensstörungen verbunden sind. Typische Beispiele sind etwa extrem kurze Nasen bei Hunden wie Mops oder Französischer Bulldogge (Brachyzephalie), überlange Ohren bei bestimmten Kaninchenrassen oder Wirbelsäulenverkrümmungen bei Manx-Katzen. Auch bei Kleintieren, Vögeln und Fischen ist das Phänomen weit verbreitet.
Die Gründe für die anhaltende Beliebtheit solcher Rassen liegen oft in ihrer Niedlichkeit, ihrem vermeintlich „menschenähnlichen“ Ausdruck oder in irreführenden Vorstellungen vom „pflegeleichten“ Haustier. Doch der Preis ist hoch: Atemnot, chronische Schmerzen, neurologische Ausfälle und verkürzte Lebensspannen sind die Regel, nicht die Ausnahme.
Rechtlicher Rahmen: Was das Tierschutzgesetz sagt
In Deutschland ist Qualzucht nach § 11b des Tierschutzgesetzes verboten. Demnach darf niemand Wirbeltiere züchten, wenn als Folge der Zucht mit Schmerzen, Leiden oder Schäden bei den Nachkommen zu rechnen ist. Dies betrifft nicht nur Tiere mit sichtbaren Missbildungen, sondern auch Anlageträger, also Tiere, die defekte Gene weitervererben können.
Zudem verbietet § 10 der Tierschutz-Hundeverordnung die Ausstellung von Hunden mit Qualzuchtmerkmalen. Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass solche Tiere öffentlich zur Schau gestellt und so zur Nachahmung animiert werden.
Trotz dieser klaren Regelungen bleibt die Durchsetzung in der Praxis schwierig. Eine Zuchttierbewertung erfolgt meist nur im Einzelfall, es fehlt an systematischen, verpflichtenden Zuchtkontrollen, und auch bei Ausstellungen mangelt es an konsequenter Umsetzung des Verbots.
Rolle der Zuchtvereine – und deren Verantwortung
Viele große Zuchtverbände zeigen sich nach außen hin reformbereit, blockieren aber in der Realität oft notwendige Veränderungen. Der Grund liegt auf der Hand: Wirtschaftliche Interessen. Gefragte Rassen bringen hohe Verkaufspreise. Ein Verzicht auf bestimmte Rassestandards würde Gewinneinbußen und den Verlust vermeintlicher „Alleinstellungsmerkmale“ bedeuten.
In manchen Fällen widersetzt man sich sogar direkt der tierärztlichen Einschätzung. Statt aktiv an der Bekämpfung von Qualzuchten mitzuwirken, bekämpfen einige Vereine die Qualzucht-Debatte – etwa durch gezielte Desinformation, Druck auf kritische Züchter und Einflussnahme auf Ausstellungsvorgaben.
Internationale Vorbilder: Was andere Länder besser machen
Andere europäische Staaten sind da deutlich weiter. In Norwegen wurde beispielsweise die Zucht von Cavalier King Charles Spaniels gerichtlich verboten, in den Niederlanden dürfen brachycephale Hunde mit zu kurzen Nasen nicht mehr gezüchtet werden. Auch Ausstellungen oder Werbung mit solchen Tieren sind dort untersagt.
In der Schweiz ist die rechtliche Lage noch klarer: Es gibt definierte Belastungskategorien, bei denen eine Zucht je nach Grad der Belastung untersagt ist. Auch in Österreich existieren klare Verbote, etwa für den Import, die Zucht und die Ausstellung betroffener Tiere.
Deutschland hinkt diesen Entwicklungen bislang deutlich hinterher. Obwohl rechtliche Grundlagen existieren, fehlt es an klaren Verordnungen, behördlicher Konsequenz und systematischer Kontrolle.
Was getan werden muss – Forderungen an Politik und Praxis
Der rechtliche Rahmen müsste durch eine Verordnung konkretisiert werden, die eine verbindliche Liste an Qualzuchtmerkmalen enthält und klare Zucht- und Haltungsvorgaben macht – so wie es bereits im Referentenentwurf des BMEL angedacht ist.
Zuchtzulassungsuntersuchungen müssen bundeseinheitlich geregelt und verpflichtend gemacht werden. Zudem bedarf es einer transparenten Datenbank mit erkannten Defektmerkmalen (wie etwa der Qualzucht-Evidenz-Datenbank QUEN), in der auch Züchter und Tierärzte ihre Erkenntnisse eintragen können.
Nicht zuletzt braucht es eine tiefgreifende Aufklärung potenzieller Tierhalter. Viele Konsumenten wissen schlicht nicht, welche Leiden hinter niedlich wirkenden Merkmalen stecken. Ein bundesweites Labelsystem zur Kennzeichnung gesunder Zuchten könnte hier Abhilfe schaffen.
Fazit: Ethik muss Vorrang vor Ästhetik haben
Die gezielte Zucht auf Merkmale, die Tieren das Atmen, Sehen, Bewegen oder Sozialverhalten erschweren oder unmöglich machen, ist mit keinem moralischen Maßstab zu rechtfertigen. Auch wirtschaftliche Interessen von Zuchtverbänden dürfen kein Argument sein, um Leiden fortzuschreiben.
Solange wir in Tierausstellungen, Werbekampagnen und Internetportalen Tiere sehen, deren Leiden für jedermann sichtbar ist – und deren Zucht dennoch erlaubt bleibt – sind alle juristischen Verbote nur auf dem Papier wirksam. Es ist an der Zeit, dem im Gesetz verankerten Tierschutz eine konsequente, flächendeckende Umsetzung folgen zu lassen.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“