Wenn Behörden den rechtssicheren Umgang mit Tieren aufkündigen
In Hessen wurde ein Erlass aufgehoben, der bislang den tierschutzkonformen Umgang mit verletzten, kranken oder hilflosen Tieren sogenannter „invasiver Arten“ regelte. Was zunächst wie eine bloße verwaltungsinterne Maßnahme erscheint, offenbart bei näherem Hinsehen tiefgreifende praktische, rechtliche und ethische Probleme. Denn betroffen sind nicht nur Verwaltung und Vollzug, sondern auch Tierarztpraxen, Auffangstationen und private Helfer, die nun ohne verbindliche Orientierung agieren müssen – in einem rechtlich hochkomplexen Spannungsfeld zwischen Artenschutzrecht und Tierschutzrecht.
Artenschutz contra Tierschutz – ein Scheinkonflikt?
In der öffentlichen Diskussion wird häufig ein Gegensatz zwischen Arten- und Tierschutz konstruiert. Während das Artenschutzrecht auf den Schutz ganzer Populationen zielt, stellt das Tierschutzrecht auf das Wohl des einzelnen Tieres ab. Im Falle invasiver Arten wie Waschbär, Nutria oder Nilgans stehen sich diese Interessen vermeintlich gegenüber: Der Schutz heimischer Arten erfordere Eingriffe in das Leben invasiver Individuen. Doch dieses Spannungsverhältnis ist rechtlich nicht zwingend antagonistisch. Vielmehr verlangt auch das europäische Artenschutzrecht – etwa im Kontext der „Unionsliste invasiver Arten“ – eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und eröffnet ausdrücklich Ausnahmen, wenn tierschutzrechtliche Belange betroffen sind.
Der nun aufgehobene hessische Erlass hatte genau dies anerkannt: Er schuf einen rechtspraktischen Rahmen, der es Behörden, Tierärzten und Auffangstationen ermöglichte, tierschutzkonform mit Fundtieren umzugehen, ohne gegen artenschutzrechtliche Vorgaben zu verstoßen. Mit seiner ersatzlosen Streichung fällt dieser pragmatische Ausgleich weg – mit gravierenden Folgen.
Praktische Unsicherheiten im Umgang mit Fundtieren
Wer ein verletztes oder hilfloses Tier findet, steht nunmehr vor einem Dilemma: Einerseits verbietet das Tierschutzgesetz das Leidenlassen eines Tieres. Andererseits stehen Unterbringung, Pflege oder gar tierärztliche Behandlung invasiver Arten unter dem Verdacht eines Verstoßes gegen das Artenschutzrecht. Ohne eine klare Regelung besteht für Tierärzte, Tierschützer und Auffangstationen nun ein erhebliches Risiko, sich straf- oder bußgeldrechtlich angreifbar zu machen.
Noch gravierender ist jedoch die Folge für das Tier selbst: Mangels klarer Handlungsanweisung kann es in der Praxis dazu kommen, dass Tiere nicht versorgt oder gar vorschnell getötet werden – nicht, weil dies aus Sicht des Tierschutzes geboten wäre, sondern weil Behörden und Institutionen keine Rechtsunsicherheit riskieren wollen.
Verwaltung ohne Leitplanken: Die Rolle der Behörden
Auch für die zuständigen Naturschutz- und Veterinärbehörden entsteht durch die Aufhebung des Erlasses ein massives Umsetzungsproblem. Während sie bisher auf eine einheitliche Verwaltungspraxis zurückgreifen konnten, bleibt ihnen nun nur die Einzelfallentscheidung – mit allen damit verbundenen Problemen: uneinheitliche Einschätzungen, lange Entscheidungswege, fragwürdige Ermessensausübungen.
Hinzu kommen ganz praktische Probleme: Wer entscheidet in einer konkreten Notlage, ob ein Fundtier behandelt, getötet oder gar beschlagnahmt werden soll? Wie wird die Eilbedürftigkeit tierärztlicher Maßnahmen mit einer vorherigen behördlichen Genehmigungspflicht in Einklang gebracht? Und wie sollen ehrenamtlich tätige Finder die richtige Entscheidung treffen, wenn selbst Fachbehörden keine klare Linie mehr vorgeben?
Rechtliche Bewertung: Die Erforderlichkeit klarer Regelungen
Rechtssystematisch ist festzuhalten: Weder das Bundes- noch das europäische Artenschutzrecht verlangt die Tötung verletzter oder kranker Individuen invasiver Arten in jedem Fall. Vielmehr bestehen Ausnahmetatbestände, die – insbesondere bei tierschutzrechtlich gebotenen Maßnahmen – Raum für differenzierte Lösungen lassen.
Doch gerade weil sich diese Lösungen nicht pauschal aus dem Gesetz ableiten lassen, ist eine behördliche Rahmensetzung durch Erlass oder Verwaltungsvorschrift unverzichtbar. Sie schafft nicht nur Rechtssicherheit, sondern verhindert auch, dass jede Gemeinde, jede Behörde und jede Tierarztpraxis eigene Maßstäbe anlegt – mit teils absurden, tierschutzwidrigen Ergebnissen.
Juristische Durchsetzung in der Praxis – ein Hindernislauf
Wer dennoch versucht, einen tierschutzkonformen Umgang gerichtlich durchzusetzen, sieht sich in der Praxis erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. Verwaltungsgerichte lassen in Eilfällen selten eine ausreichende Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu, insbesondere wenn sich Behörden auf naturschutzrechtliche Vollzugszwänge berufen. Die Frage, ob ein Tier zu Recht eingeschläfert oder nicht versorgt wurde, wird oft als erledigt angesehen, sobald das Tier tot ist.
Zudem sind Tierauffangstationen und Tierärzte selten bereit oder finanziell in der Lage, langwierige Verfahren zu führen – schon gar nicht für jedes einzelne Tier. Der Wegfall klarer Vorgaben führt deshalb nicht nur zu unsicherer Praxis, sondern entzieht betroffenen Akteuren de facto die Möglichkeit, sich gegen behördliche Maßnahmen zur Wehr zu setzen.
Forderung nach pragmatischer Rückkehr zu klaren Leitlinien
Eine gute Verwaltung zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie sich auf abstrakte gesetzliche Vorgaben zurückzieht, sondern dass sie Verantwortung übernimmt – durch transparente, nachvollziehbare und rechtssichere Regelungen. Der frühere hessische Erlass war ein solcher Weg: Er stellte sicher, dass auch Tiere invasiver Arten nicht unnötig leiden mussten, und dass Helfer, Tierärzte und Behörden ihre Aufgaben mit rechtlicher Rückendeckung wahrnehmen konnten.
Eine Rückkehr zu vergleichbaren Regelungen – sei es auf Landes- oder Bundesebene – ist deshalb dringend geboten. Nicht nur aus tierschutzrechtlicher Sicht, sondern auch im Interesse einer verlässlichen, verantwortungsvollen Verwaltung.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“