Wegfall der Röntgenklassen: Mehr Verantwortung für Tierärzte und Käufer
Die traditionelle Einteilung von Röntgenbefunden in schulnotenähnliche Klassen wurde abgeschafft. Diese Kategorisierung führte in der Praxis häufig dazu, dass Pferde wegen einzelner Auffälligkeiten in der Bildgebung abgewertet wurden, obwohl sie klinisch völlig unauffällig waren. Der neue Röntgen-Leitfaden ersetzt diese pauschalen Klassen durch eine differenzierte Befundbeschreibung. Tierärzte müssen künftig genau angeben, ob ein abweichender Befund mit einem konkreten Risiko – etwa einer zukünftigen Lahmheit – verbunden ist. Der Begriff „Risiko“ wird gezielt verwendet, während unauffällige Bilder mit „o.?b.?B.“ (ohne besonderen Befund) gekennzeichnet werden.
Diese Umstellung verlangt eine deutlich höhere fachliche Einschätzung durch den Tierarzt – und macht es für Käufer schwieriger, ohne weitergehende Beratung die Tragweite eines Befundes korrekt einzuschätzen.
Erweiterung des Standardumfangs auf 18 Röntgenaufnahmen
Eine weitere wesentliche Neuerung betrifft die Anzahl der empfohlenen Standardaufnahmen. Statt wie bisher lediglich vier Bilder zu fertigen, umfasst der neue Standard nun 18 gezielte Röntgenaufnahmen. Diese umfassendere Bildgebung soll helfen, potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen – etwa durch bessere Darstellung kritischer Gelenkbereiche.
Besonders bei der Beurteilung der vorderen Zehe wurde bislang oft eine Bildüberlagerung problematisiert: Das neue Vorgehen teilt diesen Bereich auf zwei Einzelaufnahmen auf, sodass Fessel-, Kron- und Hufgelenk differenzierter beurteilt werden können. Dennoch bleibt es Käufern und Verkäufern unbenommen, im Einzelfall von der Standardanzahl abzuweichen – sei es durch eine Reduzierung zur Kostenersparnis oder durch zusätzliche Aufnahmen bei besonderen Risiken.
Rückenbilder weiterhin kein Standard – und warum das problematisch ist
Trotz häufiger Auseinandersetzungen über Rückenprobleme bei Pferden – Stichwort „Kissing Spines“ – sind Bilder der Wirbelsäule weiterhin nicht Bestandteil des offiziellen Standardrepertoires. Begründet wird dies mit dem Mangel an verlässlicher wissenschaftlicher Auswertbarkeit entsprechender Röntgenbefunde.
Juristisch wie praktisch führt das zu einer Grauzone: Käufer können bei Rückenproblemen schwer beweisen, ob diese beim Kauf bereits bestanden oder erst später auftraten. Verkäufer wiederum riskieren, sich mit Rückabwicklungsforderungen konfrontiert zu sehen, obwohl sie auf fehlende Rückensymptomatik verwiesen hatten. Wer sicher gehen will, sollte deshalb gezielt zusätzliche Rückenaufnahmen vereinbaren – auch gegen Widerstand.
Klinische Untersuchung gewinnt an Bedeutung – auch juristisch
Die Abschaffung der Röntgenklassen stärkt die Stellung der klinischen Untersuchung im Rahmen der Kaufuntersuchung. Diese war lange Zeit gegenüber der Bildgebung ins Hintertreffen geraten. Nun rücken Lahmheitsfreiheit, Belastbarkeit und Verhalten unter dem Reiter wieder stärker in den Fokus der Beurteilung.
Rechtlich gesehen entspricht dies auch der Linie der Rechtsprechung: Der Bundesgerichtshof hat mehrfach entschieden, dass ein klinisch unauffälliges Pferd auch dann nicht als mangelhaft gilt, wenn einzelne Röntgenbilder von der Norm abweichen. Ein Mangel liegt juristisch erst dann vor, wenn konkrete Symptome vorliegen oder ein hohes Risiko nachweisbar ist, dass sich die radiologisch erfasste Veränderung funktionell auswirkt.
Beweisproblematik bei später auftretenden Symptomen
In der Praxis erweist sich genau diese juristische Differenzierung als Stolperfalle: Tritt einige Monate nach dem Kauf eine Lahmheit auf, die möglicherweise mit einem auffälligen Röntgenbefund zusammenhängt, muss der Käufer beweisen, dass dieser Befund bereits bei Übergabe des Pferdes vorhanden und für die spätere Entwicklung kausal war.
Das ist ohne ergänzende Sachverständigengutachten kaum zu leisten – und selbst dann mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Gerade bei Hochpreisverkäufen ist deshalb die sorgfältige Dokumentation aller Befunde – auch der unauffälligen – von entscheidender Bedeutung.
Vertragsgestaltung: Wann welche Röntgenbilder vereinbart sein sollten
Aus juristischer Sicht ist es ratsam, im Kaufvertrag ausdrücklich festzuhalten, welche Röntgenaufnahmen angefertigt wurden und ob der Käufer mit dem Umfang einverstanden ist. Werden zusätzliche Aufnahmen – etwa vom Rücken – nicht gemacht, sollte dies ebenfalls dokumentiert werden.
Im Streitfall kann eine solche schriftliche Vereinbarung entscheidend sein, um nachzuweisen, dass bestimmte Risiken entweder nicht erkannt werden konnten oder bewusst vom Käufer in Kauf genommen wurden. Fehlt diese Klarstellung, drohen im Nachhinein Auseinandersetzungen über angeblich unterlassene Aufklärung oder unvollständige Untersuchungen.
Keine Garantie – auch nicht bei 18 perfekten Aufnahmen
Ein Befund ohne Auffälligkeiten garantiert keine Gesundheit auf Lebenszeit. Das bleibt der wohl wichtigste Hinweis: Der neue Röntgen-Leitfaden schafft mehr Klarheit, aber keine Sicherheit. Pferde sind Lebewesen – ihre körperliche Entwicklung lässt sich trotz modernster Diagnostik nicht vollständig vorhersagen.
Daher gilt: Ein unauffälliges Röntgenbild schützt nicht vor späteren Problemen, und ein auffälliger Befund bedeutet nicht zwingend, dass das Pferd nicht nutzbar ist. Juristisch und medizinisch entscheidet immer der Einzelfall.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Partner und Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld und unterrichtet regelmäßig an der Akademie des Deutschen Beamtenbundes (dbb Akademie). Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“