„Überzählige Tiere“ – ein problematischer Begriff aus rechtlicher Sicht
Die jüngsten Berichte über die Tötung von vier Moorantilopen im Zoo Leipzig aus Gründen des Platzmangels werfen erneut ein Schlaglicht auf eine rechtlich und ethisch höchst problematische Praxis in zoologischen Einrichtungen. Der Begriff „überzählige Tiere“, welcher mittlerweile fest im Sprachgebrauch vieler Zoos verankert ist, suggeriert bereits eine unzulässige Abwertung einzelner Tiere als „wertlos“ oder „entbehrlich“. Tierschutzrechtlich betrachtet stehen dem klare Vorschriften entgegen. So verbietet das Tierschutzgesetz ausdrücklich die Tötung von Tieren ohne vernünftigen Grund. Wirtschaftliche Interessen oder die bloße Platznot sind keine anerkannten Rechtfertigungen. Dennoch hat sich genau diese Praxis in vielen Zoos verbreitet.
Artenschutz als Rechtfertigung für die Tötung – ein Irrweg
In öffentlichen Diskussionen argumentieren Zoobetreiber häufig damit, dass gezielte Züchtungen unverzichtbar seien, um natürliche Verhaltensweisen wie Fortpflanzung, Jungenaufzucht und soziale Interaktionen aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig gestehen sie jedoch indirekt ein, dass bei begrenzten räumlichen Kapazitäten eine Auslese stattfindet, bei der nicht alle Tiere langfristig Platz finden. Diese Argumentation ist rechtlich nicht haltbar. Denn der vermeintliche Zweck, Tiere durch Zuchtmaßnahmen vor dem Aussterben zu bewahren, rechtfertigt nicht die Tötung jener Tiere, die aus Sicht der Zoobetreiber überflüssig erscheinen. Ein solches Vorgehen steht vielmehr in einem unauflösbaren Konflikt zu den im Tierschutzgesetz niedergelegten ethischen Grundsätzen, die Tiere als Mitgeschöpfe unter Schutz stellen.
Die rechtliche Dimension der „vernünftigen Gründe“
Gemäß § 1 und § 17 des deutschen Tierschutzgesetzes darf niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen oder es töten. Der Begriff „vernünftiger Grund“ ist hierbei entscheidend und rechtlich eng auszulegen. Anerkannte Gründe für die Tötung eines Tieres liegen vor allem im Schutz der öffentlichen Gesundheit oder in medizinisch-veterinärmedizinischen Notwendigkeiten, etwa um unerträgliche Schmerzen zu beenden. Wirtschaftliche oder managementbezogene Erwägungen erfüllen diese Anforderungen regelmäßig nicht. Dass Tiere gezielt gezüchtet und anschließend wieder getötet werden, wenn sie den Zoos unbequem werden, verstößt daher gegen grundlegende tierschutzrechtliche Bestimmungen.
Fehlvorstellungen in der Öffentlichkeit: Mythos Auswilderung
Ein oft verbreiteter Irrglaube betrifft die Funktion von Zoos als vermeintliche Retter bedrohter Arten durch Auswilderungen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Laut offiziellen Angaben wurden zwischen 2005 und 2020 lediglich 149 Tiere geschützter Arten aus deutschen Zoos in Auswilderungsprojekte abgegeben. Angesichts der über 17.000 Tiere in deutschen Zoos ist dies verschwindend wenig. Daraus lässt sich folgern, dass der Beitrag zoologischer Gärten zum tatsächlichen Artenschutz sehr begrenzt ist. Ein Großteil der gezüchteten Tiere verbleibt dauerhaft in Zoos – mit allen Konsequenzen, einschließlich der problematischen Frage nach dem weiteren Umgang mit sogenannten „überzähligen“ Individuen.
Lebensbedingungen in zoologischen Einrichtungen – Einschränkungen ohne rechtliche Rechtfertigung
Ein weiteres Argument der Zoo-Befürworter zielt auf angebliche Vorteile der Haltung in Gefangenschaft ab: Zoos ermöglichten den Tieren angeblich wichtige Verhaltensweisen, die in freier Wildbahn bedroht seien. Jedoch wird dabei unterschlagen, dass zahlreiche essenzielle Verhaltensweisen – darunter die freie Wahl der Sozialpartner, Erkundungsverhalten oder Nahrungssuche – unter Bedingungen der Gefangenschaft massiv eingeschränkt sind. Diese Lebensbedingungen sind rechtlich kritisch, denn das Tierschutzgesetz fordert artgemäße Haltungsbedingungen, die den Tieren ermöglichen müssen, ihre angeborenen Verhaltensweisen weitestgehend auszuleben. Die künstliche Schaffung eines Umfelds, in dem Tiere zwar reproduzieren, jedoch anschließend getötet werden, verstößt fundamental gegen den gesetzgeberischen Willen.
Wirtschaftliche Motive als unzulässige Entscheidungsgrundlage
Die Praxis, ältere Tiere oder solche mit erhöhtem Pflegebedarf systematisch aus dem Bestand zu entfernen, ist nicht nur ethisch unvertretbar, sondern auch rechtlich hochproblematisch. Der Grundsatz, Tiere nicht ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus zu behandeln oder gar zu töten, ist im Tierschutzrecht eindeutig verankert. Eine vergleichbare Situation in anderen Tierhaltungen, etwa Tierheimen oder privaten Tierhaltern, würde zu einem sofortigen Eingreifen der Behörden führen. Zoos genießen diesbezüglich keinen Sonderstatus und dürfen rechtlich nicht besser gestellt werden.
Rechtliche Konsequenzen und Verantwortung der zoologischen Einrichtungen
Die bestehenden Regelungen des Tierschutzrechts legen zoologischen Einrichtungen klare Pflichten auf: Sie müssen Verantwortung für jedes einzelne Tier übernehmen, das sie halten oder züchten. Das bedeutet konkret, dass Zoos entweder die Nachzucht auf ein verantwortbares Maß reduzieren oder ausreichende Kapazitäten schaffen müssen, um auch nicht mehr vermittelbare Tiere bis zu ihrem natürlichen Lebensende artgerecht unterzubringen. Die aktuell praktizierte Tötung überzähliger Tiere verletzt somit nicht nur ethische Normen, sondern auch die gesetzlichen Grundlagen und könnte für Verantwortliche rechtliche Folgen nach sich ziehen.
Fazit: Forderungen an die Zoos aus rechtlicher und ethischer Perspektive
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Tötung von sogenannten überzähligen Tieren in Zoos weder rechtlich noch ethisch vertretbar ist. Zoologische Einrichtungen müssen ihre Praxis dringend überdenken und nachhaltige Lösungen entwickeln, die den Grundsätzen des Tierschutzes Rechnung tragen. Dazu zählen eine deutlich strengere Kontrolle der Nachzucht, umfangreiche Investitionen in verbesserte und erweiterte Haltungsbedingungen sowie die Verpflichtung, allen gehaltenen Tieren dauerhaft ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Nur so können Zoos ihrer selbst behaupteten Verantwortung für Artenschutz und Tierwohl gerecht werden und künftigen juristischen Auseinadersetzungen vorbeugen.
Rechtsanwalt Nils Michael Becker aus Bad Honnef bei Bonn ist mit seiner Kanzlei auf Tierrecht, Datenschutz und Vereinsrecht spezialisiert. Er ist Dozent an der Tierechtsakademie in Bielefeld. Einfache und schnelle Terminvereinbarung unter nilsbecker.de/telefontermin.“