Wir halten Abstand, nicht nur wegen Corona (Dressur-Studien 03/2020)

Wir leben in Zeiten, in denen das Abstandhalten ein Dauerthema geworden ist – so sehr, dass es sogar Bußgelder kosten kann, anderen Menschen zu nahe zu sein. Aber auch das Passieren von Pferden kann schmerzhaft und teuer sein und wieder mal musste sich gerade ein Gericht damit befassen.

Anlass war ein Unfall, bei dem ein Radfahrer schwer verletzt wurde. Er hatte mit seinem Liegerad zwei Reiterinnen überholt und wurde dabei von einem der Pferde getreten – Prellungen, Schürfwunden und eine Verletzung an der Hand waren die Folge. Vor dem Landgericht Frankenthal forderte der Radfahrer deshalb Schadensersatz und Schmerzensgeld ein und bekam Recht – allerdings inklusive einer Lehrstunde in Sachen „Abstand halten“.

Denn der Radler hatte die beiden Pferde in einem seitlichen Abstand von nur 40 Zentimetern überholt, wie das Landgericht in seinem Urteil feststellte. Das sei, so die Richter, bei einem Pferd einfach nicht genug, denn man müsse immer auch „mit dem Pferd rechnen“ – also mit dessen nicht immer berechenbaren Verhalten. Ein solcher Fehler führe, auch wenn er die Schadensersatzpflicht der beteiligten Reiterin nicht aufhebe, zumindest zu einem erheblichen Mitverschulden des Fahrradfahrers. Als ausreichend erachteten die Richter eher einen Abstand von anderthalb bis zwei Metern – das wird Ihnen allen als guter Abstand gerade sehr bekannt vorkommen.

Ähnlich hatten schon vor ein paar Jahren Richter am Oberlandesgericht Celle geurteilt. Im dortigen Fall war allerdings das Pferd zu Tode gekommen, nachdem es sich in Panik an einem Lkw verletzt hatte, der in knapp einem Meter in Schrittgeschwindigkeit an dem Tier vorbeifuhr. Auch hier legten sich die Richter dahingehend fest, dass die Vorbeifahrt an einem Pferd, auch wenn sie so langsam geschieht, einen Mindestabstand von anderthalb bis zwei Metern erfordere.
Trotzdem musste auch in diesem Fall die Klägerin erhebliche Einschränkungen ihrer Schadensersatzansprüche erleben: Denn das Gericht urteilte außerdem, dass Reiter sich im Zweifel nicht darauf beschränken dürfen, einfach auf ihrem Pferd sitzen zu bleiben, wenn eine Verkehrssituation entsteht, die das Pferd vielleicht in Panik versetzt. Absteigen und am kurzen Zügel führen, das wäre nach Meinung der Richter die bessere Lösung gewesen.

In beiden Fällen schrieben die Richter den Parteien ins Stammbuch, dass besondere Gefahrensituationen nicht nur besondere Rücksicht, sondern wenn möglich auch direkte Absprachen erfordern. Der Radfahrer hätte, so die Richter, sich mit den Reiterinnen über den Überholvorgang abstimmen müssen, statt einfach knapp vorbeizufahren. Im vom Oberlandesgericht Celle entschiedenen Fall meinten die Richter, der Fahrer des Lkw habe nicht einfach aus der Tatsache, dass die Reiterin das Pferd anhält und sodann auch stehen bleibt schließen dürfen, dass sie mit der Vorbeifahrt des Lkw – zumal so eng – einverstanden gewesen sei.

Beide Entscheidungen beleuchten ganz gut, dass im Straßenverkehr „ein bisschen mehr“ Vorsicht stets die bessere Wahl ist. Dass Pferde sich nicht immer ganz vorhersagbar verhalten, sollte jeder Reiter wissen. Und ebenso, dass Pferdehalter – genau wie die Betreiber eines Kraftfahrzeugs – immer schon aus gesetzlichen Gründen erstmal in der Haftung sind, wenn das Verhalten des Pferdes zu einem Schaden führt. Da hilft es, wie die Urteile zeigen, auch nicht, dass einem als Reiter das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer vielleicht besonders rücksichtslos vorkommt. Genau wie unter Autofahrern gilt auch hier, dass alle Verkehrsteilnehmer immer bemüht sein müssen, Unfälle zu vermeiden.

Das ist, ohne Frage, für Reiter immer schwieriger als für den Insassen eines Fahrzeugs. Wie soll man reagieren, wenn auf einer engen Straße ein Auto oder ein Lkw herankommen, vielleicht mit gefühlt zu großer Geschwindigkeit? Dafür gibt es keine allgemeingültige Lösung, aber rechtlich lässt sich sagen: Alles ist gut, was die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalles geringer werden lässt. Ganz schlecht wäre, den anderen Verkehrsteilnehmer an Ort und Stelle „erziehen“ zu wollen. Einander „die Vorfahrt nehmen“ oder den Weg zu versperren hat noch nie gnädige Richter gefunden und endet im schlimmsten Fall ohnehin mit dramatischen Folgen für Gesundheit oder Leben.

Deshalb half dem Radfahrer beispielsweise auch nicht, dass die beiden Reiterinnen zum Zeitpunkt des Unfalls verbotswidrig auf einem Radweg unterwegs waren. Das Gericht kürzte seinen Schmerzensgeldanspruch um die Hälfte zusammen. Auch die Klägerin Celle musste eine Kürzung ihrer Ansprüche hinnehmen, weil sie nach Ansicht der Richter auch habe entscheiden können, nicht die Vorbeifahrt des Lkw einfach abzuwarten, sondern sich zu verständigen und mit dem Pferd so weit zurückzureiten, bis eine bessere, breitere Stelle gefunden worden wäre.

Rücksicht nehmen kann also auch heißen, erstmal zurückzustecken, bis die Situation gefahrlos ist – und nicht darauf zu setzen, dass das schon der andere machen wird.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe 03/2020 der Dressur-Studien, die Sie hier erwerben können.

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